BLUMEN AUS EINER ANDEREN WELT. EIN DORF IN KASTILIEN VERÄNDERT SICH IN ICIAR BOLLAINS EINFÜHLSAMEM FILM



Ein Bus voller Frauen erreicht sein Ziel: ein abgelegenes Dorf in Kastilien, in dem es an Frauen mangelt - und deswegen an Zukunft. Die einsamen Männer stehen Spalier, in frisch gestärkten Hemden und mit Rosen in den Händen; sie begrüßen die Besucherinnen neugierig und schüchtern zugleich. Auf dem Dorfplatz wird alsbald zum Tanz aufgespielt. Doch in die Fröhlichkeit dieser Begegnung mischen sich Gesten der Vergeblichkeit, der unerfüllten Hoffnung, auch der Routine. Gewiss ist das nicht die erste Busladung von Frauen, die von den Junggesellen dieses Dorfs hoffnungsvoll, lüstern und skeptisch zu einem solchen Junggesellen-Markt empfangen wird. Sicherlich ist das auch nicht das erste trostlose Kaff, in dem diese Frauen auf ihrer Suche nach einem neuen Leben in einer solchen Singleparty gelandet sind.
Drei Frauen bleiben nach dem diesmaligen Junggesellen-Markt in Verbindung mit dem Dorf. Ihre Geschichten erzählt Iciar Bollain eher einfühlsam berichtend als effektvoll dramatisierend. Die Krankenschwester Marirrosi aus der Industriestadt Bilbao und der Orchideenzüchter Alfonso, der aufs Land geflüchtet ist und sich nun fürs Überleben dieses Dorfes aktiv einsetzt, finden zwar schnell zueinander, doch sie fürchtet die Stille dieses einsamen Orts, den er wiederum nicht mehr verlassen will; die Beziehung erschöpft sich in gegenseitigen Besuchen. Die lebenshungrige Milady. aus Havanna zieht ins Haus des wohlhabenden Carmelo. Dem selbstgefälligen Hagestolz kommt gar nicht in den Sinn, dass er für die junge Frau nur eine Möglichkeit zur Flucht aus der kubanischen Misere geboten hat und dass sie sich keinesfalls mit einem Leben abfinden wird, das sein engstirniger Machismo bestimmt und nur das Satelliten-TV etwas bunter macht.
Im Mittelpunkt steht die junge Patricia aus der Dominikanischen Republik, die dem Kreislauf von Illegalität, Arbeitslosigkeit und drohender Ausweisung endlich zu entkommen hofft. Um für sich und vor allem ihre beiden Kinder ein Stückchen Zukunft zu sichern, wird sie die Frau des wortkargen, zunächst fast stumpfsinnig wirkenden Bauern Damián und nimmt dafür neben der Schufterei in Haus und Hof auch noch den Psychoterror der sie ablehnenden Schwiegermutter in Kauf. Dabei ist sie immer in Furcht, der Vater ihrer Kinder, von dem sie keineswegs rechtsgültig geschieden ist, könnte auftauchen und auch ihr neues Leben zerstören.
Die Fülle der in diesen Geschichten gebündelten sozialen Fragen und gesellschaftlichen Probleme, von der Landflucht bis zur Immigrantennot, von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bis zu Integrationsschwierigkeiten, von ökonomischer bis zu gedanklicher Rückständigkeit, macht den bemerkenswerten Wirklichkeitsgehalt dieses Films aus, ohne je auf ihm zu lasten. Da gibt es nicht die Spur eines Zeigefingers, keinerlei Hang zur Demonstration von Thesen, auch keine vorbildhaften oder gänzlich diffamierten Haltungen. Da scheint ganz einfach und unverstellt das Leben in seinen stets gemischten Valeurs zu walten, so wie es ist und immer wieder fasziniert.
Ihre ganz besondere Intensität gewinnt Bollains Erzählmethode in Patricias Geschichte. Längst hat sich zwischen ihr und dem tumben Damián echte Zärtlichkeit entwickelt. Doch jetzt wird sie doch von ihrem Ex-Mann erpresst, und Damián, der sich belegen fühlt, schickt sie und ihre Kinder für immer weg. In einer fast stummen, geradezu atemberaubenden Gratwanderung widerstrebender Gefühle (auch des Zuschauers) wendet sich ihr Schicksal und das ihrer Kinder, unerwarteterweise auch dank der lebenspraktischen Einsicht von Damiáns Mutter. Der ganze Film gewinnt hiermit seine Vision: dass eine Zukunft des Dorfs möglich ist - gerade mit Hilfe der von ganz weither kommenden, sogar andersfarbigen, wenn auch nicht andersprachigen Fremden.
FLORES DE OTRO MUNDO - "eine gute Metapher für Menschen im Allgemeinen, nicht ausschliesslich Frauen", so die Regisseurin - ist nach HOLA, ESTAS SOLA, einem zumindest in Spanien sehr beachteten Debüt, der zweite Spielfilm von Iciar Bollain, er wurde bei der Semaine de la Critique in Cannes 1999 herausgestellt. Bollain, gestandene Schauspielerin, unter anderem bei Kenneth Loach, hat eine aktive Nähe zum Dokumentarfilm. Daraus erklärt sich die Besonderheit ihres Spielfilms. Eine ihrer Absichten war, selbst profilierte Schauspieler wie den aus Filmen von Saura und Almodóvar bekannten Jose Sancho als Carmelo sich nicht von den authentischen Dorfbewohnern abheben zu lassen. Mit der Auswahl der Frauen aus der Karibik gab sie sich besondere Mühe; Authentizität war angesagt - und wurde erreicht. Auch wenn sie eine Rolle spielen, ist es wirklich so als spielten sie ihr eigenes Leben. Ein derart dokumentarischer Ansatz in den schauspielerischen Leistungen bringt diesen bemerkenswerten, geradezu unerwartet spannenden Film zum lebendigen und befreienden Atmen. In seinen skurrilen Episoden erinnert er an Formans FEUER-WEHRBALL, häufiger aber an das unaufdringliche und doch inständige, eben auch an Menschen festgemachte Erzählen eines Peter Lilienthal in LA VICTORIA. Mit diesen Vergleichen soll keineswegs Iciar Bollains Eigenständigkeit bestritten werden, die sich vor allem in der Genauigkeit der Beobachtung, dem Insistieren auf authentischen Verhaltensdetails und in einer herben Bildpoesie manifestiert.
Am Ende des Films ist ein Jahr über das kastilische Dorf hinweggegangen. Ruhig ausgehaltene Schwenks über die karge Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten haben die gelegentlich ineinander verzahnten, meist parallel verlaufenden und schließlich ganz auseinanderdriftenden Geschichten der drei Frauen immer wieder in diesem Dorf geerdet. Die Kubanerin Milady ist aus den Bildern des Films verschwunden und sucht ihr Glück längst irgendwo anders. Die unentschlossene Marirrosi wird wohl für immer in Bilbao bleiben. Aber Patricia scheint für sich und ihre Kinder trotz aller Widrigkeiten hier doch ein Zuhause gefunden zu haben. Allzuviel ist in diesem einen Jahr nicht geschehen, aber das Dorf ist nicht weiter gestorben. Im Gegenteil, sogar die fremde Patricia und ihre Kinder tragen nun zu seiner Identität bei, was doch Veränderung und somit einen Hoffnungsschimmer bedeutet.
Und damit steht das entlegene Dorf in Kastilien für viele Dörfer irgendwo in Europa und ihre Nöte - so übertragbar sind die geschilderten Situationen gerade durch ihre Konkretheit. Die hier so souverän gehandhabte dokumentarische Methode erbringt also weit mehr als nur die Beglaubigung des konkreten Falls; sie befördert auch das Exempel.
(Wolfgang J. Ruf. In: epd Film 2/2001, S. 45)


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