Catherine
Breillat, Schriftstellerin, Regisseurin und Drehbuchautorin, hat sieben Romane
geschrieben und acht Filme (oft Adaptationen ihrer Romane) gedreht - ihr Werk
ist jedoch in Deutschland nahezu unbekannt. Seit wenigen Wochen erst liegt mit
dem im Kowalke Verlag erschienenen Roman "Ein Mädchen" das einzige
ihrer Bücher in deutscher Übersetzung vor. Ihr neuester Film "À
ma soeur" lief im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale, doch abgesehen
von "Romance", mit dem sie im letzten Jahr Furore machte, waren ihre
Filme hierzulande bislang nicht zu sehen.
Im Zentrum der schriftstellerischen und filmischen Arbeit von Catherine Breillat
steht immer wieder Sexualität und die Suche nach sexueller Identität,
hartnäckig umkreist sie seit nahezu 30 Jahren das gleiche Thema. Seit ihrem
ersten Roman "L'homme facile" (1968), den sie 17jährig schrieb
und der für Minderjährige verboten wurde, hat Catherine Breillat mit
ihren Arbeiten regelmäßig für Aufregung und Debatten gesorgt
und großes Aufsehen erregt.
Das Kino von Catherine Breillat ist in mancherlei Hinsicht eine Zumutung. Ihre
Filme sind eine Gratwanderung, bewegen sich immer haarscharf an der Grenze des
Erträglichen. Sie provozieren Staunen und Unbehagen zugleich, sind in ihrer
Drastik so verstörend wie faszinierend. Sie sind nicht leicht zu kategorisieren,
weder ästhetisch noch moralisch, und werfen viele Fragen auf, vor allem
die nach der Repräsentation von Sexualität im Kino. Man hat häufig
das Gefühl, das Gezeigte so auf der Leinwand noch nie gesehen zu haben
- und ist sich gleichzeitig nicht sicher, es in dieser Form überhaupt sehen
zu wollen. Bei ihrer Erforschung der weiblichen Sexualität und des physischen
Begehrens überschreitet Catherine Breillat mit ihrem direkten Zugang und
der expliziten Darstellung von Sexualität Tabus. Sie zeigt, was sonst im
Kino weggelassen wird, was normalerweise unsichtbar bleibt und als unzeigbar
gilt.
Catherine Breillats provokanter Debütfilm "Une vraie jeune fille"
(Ein Mädchen) aus dem Jahr 1976, die Verfilmung ihres gleichnamigen Romans,
wurde erst im letzten Jahr für die französischen Kinos freigegeben.
Die 16jährige Alice macht sich selbst zur Zuschauerin ihrer erwachenden
Sexualität, schwankend zwischen Lust und Scham, dem Erkunden des eigenen
Begehrens und dem Zurückschrecken davor, verbringt sie die großen
Ferien bei ihren Eltern in der Provinz, in der erstickenden Atmosphäre
zwischen einem vulgären Vater und einer hysterischen Mutter ist alles sexuell
konnotiert, entzündet sich die Lust an jedem Ding - zumindest für
ein Mädchen am Ende der Pubertät, einer Zeit, in der das Begehren
erwacht und die Phantasien blühen: derb, tierisch, klebrig und inzestuös.
Auf den Spuren einer "amour fou" folgt die Heldin in "Tapage nocturne" (Nächtliche Ruhestörung, F 1979) ihrem Begehren unbeirrbar bis zur letzten Konsequenz. Solange ist Filmemacherin und führt ein ausschweifendes Leben: neben ihrer Ehe hat sie eine Beziehung zu einem Schauspieler und jede Nacht zwei bis drei sexuelle Begegnungen mit diversen Männern. Als sie Bruno trifft, widersteht dieser scheinbar ihren Verführungskünsten, doch sie mag seine kleinen sadistischen Demütigungen und verliebt sich leidenschaftlich in ihn. Beide entwerfen strikte Verhaltenscodes, in denen das Wort Liebe nicht vorkommen darf, und setzen jede Nacht aufs neue "das erste Mal" in Szene.
Auch in "36 Fillette" (F 1987) widmet sich Breillat radikal ihrem Grundthema, wieder geht es um die ersten sexuellen Erfahrungen eines jungen Mädchens. Für die 14jährige Lili ist der Campingurlaub zwischen Langeweile am Strand und Ehestreit der Eltern eine Qual. Neugierig flirtet sie mit Maurice, einem 40jährigen Nachtclub-Playboy, und folgt ihm schließlich auf sein Hotelzimmer, im letzten Moment macht sie jedoch einen Rückzieher. Sie möchte ihre Jungfräulichkeit, die ihr wie ein Handicap erscheint, loswerden und schreckt doch gleichzeitig davor zurück, ungeduldig und zögerlich zuleich. Diese Dualität der Gefühle versucht sie bei ihren Vorstößen auf unbekanntes Terrain hinter einer Maske zu verbergen, indem sie so tut, als wisse sie genau, was sie will und wie es läuft, das Spiel zwischen Männern und Frauen.
Eine Geschichte von Menschen, die sich nicht lieben, aber begehren und von der
Brutalität dieses Begehrens - geboren aus Betrug, Scham und Gewissensbissen
- erzählt Catherine Breillat in ihrem Thriller "Sale comme un ange"
(F 1991). Deblache, ein 50jähriger Cop, der bislang alles mit seinem Kollegen
teilte, fühlt sich verraten, als dieser heiratet. Seine Frau Barbara ist
jung, schön, kühl und sie weiß nur zu gut, daß Deblache
sie nicht mag. Doch genau damit beginnt eine unerklärliche Spannung, die
in eine körperliche, wortlose Liebe mündet. Aus dem Begehren wird
Leidenschaft und das Bedürfnis, sich häufiger zu treffen. Nur der
Ehemann ist im weg.
Mit der dunklen, todbringenden Seite von Sex und Leidenschaft beschäftigt
sich Catherine Breillat auch in "Parfait amour!" (F 1996). Ausgehend
von einer Nachricht in der Zeitung erzählt sie eine obsessive Liebesgeschichte,
die mit einem Mord endet. Die 37jährige Frédérique ist zunächst
von der Anziehung überrascht, die sie für den zehn Jahre jüngeren
Christophe empfindet, doch schließlich glaubt sie an ihre Liebe und läßt
sich darauf ein. Mit der Zeit gewinnen die Realität und einige damit verbundenen
Wahrheiten wieder Oberhand: Christophe zeigt sich als unreif und orientierungslos,
er will leben und nicht alles schon erlebt haben. Er erweist sich also als das,
was er ist: ein junger Mann. Der Traum ist aus, doch die Beziehung dauert an
...
In "Romance" (F 1998), Breillats am heftigsten diskutierter Film, macht sich Marie auf die Suche nach sexueller Erfüllung und nach den "Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Sexualität". Ihr Freund Paul, mit dem sie zusammenlebt und den sie liebt, weigert sich, mit ihr zu schlafen. Bei der Affäre mit einer nächtlichen Zufallsbekanntschaft, Paolo, erlebt sie direkten, problemlosen Sex ohne Gefühlsverstrickung. Wirkliche Lust aber verschafft ihr die sadomasochistische Beziehung zu ihrem Vorgesetzten, durch dessen behutsame rituelle Fesselungen sie zum ersten Mal den Unterschied zwischen Unterwerfung und Hingabe erlebt, zum allegorischen Schluß wird die schwangere Marie zu einer Art moderner Maria.
Die fast unheimliche thematische Kohärenz von Catherine Breillats Werk wird nur von einem kurzen Film durchbrochen, den sie als Teil der in Bezug auf Jean Vigos berühmten Film entstandenen Serie "A propos de Nice, la suite" drehte, in "Aux Nicçois qui mal y pensent" (F 1995) (eine Anspielung auf das Sprichwort "Honni soit qui mal y pense" / verachtet sei, wer Arges dabei denkt) fängt Breillat ganz im Sinne von Vigos Diktum "die letzten Zuckungen einer Gesellschaft ein, die ihren Bürgern gegenüber so ignorant ist, daß einem schlecht wird." Auf den Spuren der Intoleranz und ohne Drehbuch zeigt die Kamera unbeirrbar all das, was sie nicht gesehen oder gehört haben dürfte. (Birgit Kohler, Freunde der Deutschen Kinemathek. Retrospektive Catherine Breillat 31.5-9.6.2001)
www.deutsches-filminstitut.de/f_films.htm