Chantal Akerman meldet sich zurück: In der freien Proust-Adaption "Die Gefangene" [...] erzählt sie von einer Obsession aus männlicher Perpsektive [sic], von Liebe als Tragik und Verfügbarkeit. Für eine "Feministin" ein irritierendes Werk.
Sie
verknüpfen eine Proust-Figur mit der heutigen Zeit. Ist "Die Gefangene"
ein Gegenwartsfilm?
Akerman:
Aufgrund der Zeitaktualität und der Zeitlosigkeit würde ich Ja sagen.
Den Typ von Mann, der eine Frau nicht nur körperlich, sondern auch mental
besitzen will, gab es vor 50 Jahren und wird es auch noch in 50 Jahren geben.
Leider. Ich habe die Geschichte in der Gegenwart erzählt, aber in einer
Art Niemandsland angesiedelt.
Was
bedeutet Ihnen Marcel Proust?
Akerman:
Ich bin mit seiner Literatur groß geworden.
Erstmals las ich "A la recherche du temps perdu" mit 14 Jahren, vielleicht noch
etwas zu jung, dann noch einmal mit 25. In dem Alter beeindruckte mich vor allem
seine Schilderung der Homosexualität, das war damals völlig neu. Und
dann natürlich seine Reflexionen über Liebe, Juden und Bürgertum,
die Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft. Diese Gegenüberstellung
von aristokratischer und bürgerlicher Welt, diese Lügengebäude,
die errichtet wurden, faszinieren mich noch heute. Dazu kam noch, dass ich mich
als Jüdin immer als Außenseiterin in einem Elite-Gymnasium fühlte.
In meinem Elternhaus beherrschte man die französische Sprache nicht perfekt.
Mich aber hatte der Ehrgeiz gepackt, gut französisch zu sprechen. Wahrscheinlich
verschlang ich deshalb alles, was gedruckt war.
Welche
Bedeutung hat der jüdische Glaube für Sie?
Akerman:
Ich bin weder gläubig noch praktizierend. Aber als Jüdin bin ich Teil
einer Geschichte,
von der ich mich nicht befreien kann, die ich im Innersten aber auch nicht will.
Manchmal empfinde ich das Jüdischsein als Bereicherung, manchmal als eine
Bürde.
Wie
bereiten Sie Ihre Filme vor?
Akerman:
Ich folge meinem Instinkt. Dieses Projekt ging mir erstmals 1976 nach Jeanne
Dielman durch den Kopf, dann habe ich es immer wieder aufgeschoben, ich fühlte
mich noch nicht reif genug. Dann aber ging alles ganz plötzlich. Ich habe
mich auf den Proust-Text bezogen, ohne an ihm zu kleben. Zwischen Fertigstellung
des Drehbuchs und Beginn der Dreharbeiten lagen nur wenige Wochen, was gut war.
Denn je mehr ich überlege, umso mehr verderbe ich alles wieder. Wenn mir
zu viel Zeit zur Verfügung steht, stürze ich mich verbissen in Verbesserungen.
Dabei ist das Erste, was mir einfällt, eigentlich immer das Beste.
Mich
hat Ihr Frauenbild erstaunt. Ich habe den Eindruck, Ihre Heldin hat noch nie
etwas von Emanzipation gehört. Eigentlich lässt sie sich aushalten.
Akerman: Sie
ist doch eine freie Frau. Sie liebt ihren Partner auf ihre sehr spezielle Art,
es gefällt ihr, wie es ist. Sie lässt über sich verfügen,
weil sie es will. Eigentlich hat sie es doch gut, sie geht ihren künstlerischen
Neigungen wie Singen und Tanzen nach, trifft sich mit ihren Freundinnen, genießt
die kleinen Fluchten. Allerdings hätte ich diesen Film nach 1968 oder noch
1980 so nicht drehen können. Meine Generation hatte noch die Vorstellung,
sich selbst zu verwirklichen, wollte mehr als nur das aktuelle Vergnügen.
Aber müssen wir das von den Jüngeren als Lebensmaxime einfordern?
Ich zeige auch die Spannung in dieser Beziehung, die nicht zur Explosion führt,
sondern zur Implosion.
Warum
erzählen Sie aus einer männlichen Perspektive?
Akerman:
Das war eine bewusste Entscheidung. Ich will nicht in die feministische Ecke.
Ich bin eine Frau, die Filme macht, aber keine Frauenfilmerin.
Bestimmendes
Element ist die Vereinsamung zu zweit.
Akerman:
Wundert Sie das? Einsamkeit ist Bestandteil einer
jeden Beziehung. Mann und Frau bleiben sich fremd. Es gibt wunderbare Momente
der Nähe und der Vereinigung, aber die vergehen. Im Prinzip existiert jeder
für sich allein. Wir werden allein geboren, leben allein und sterben allein.
So einfach ist das.
Glauben
sie an eine Form des Glücks?
Akerman:
Das kommt darauf an, was man darunter versteht.
Sicherlich kennen wir alle dieses subjektive Gefühl des Glücklichseins,
diesen flüchtigen Ausnahmezustand. Eine Konstante gibt es nicht.
Woher
kommt Ihre stilistische Präzision?
Akerman:
Ich achte sehr stark auf den "Look" eines Films, um die Atmosphäre zu treffen,
das geht bis in die Details der Farbkomposition. Gleichzeitig arbeite ich mit
langen Einstellungen, die viele für mein Markenzeichen halten.
Was
verbindet Sie mit den Filmfiguren?
Akerman:
Es gibt immer einen Bezug zu mir oder zu meiner
Familie. Deshalb könnte ich nie einen Genrefilm drehen. Meine ersten Filme
waren mit Charakteren bevölkert, die viel mit meinen Tanten, Großtanten
oder meiner Mutter gemein hatten. Oft merke ich die persönlichen Inspirationen
erst, wenn ich den fertigen Film sehe. Ich finde mich in der weiblichen Hauptfigur
von "Eine Couch in New York"
wieder, die Anna in "Rendez-vous
d'Anna" war ich auch. An der Kinofassung von "Die Gefangene" überraschte
mich, wie sehr die männliche Figur meinem Schwager ähnelt. Beim Schreiben
wusste ich das noch nicht. Auch in meiner nächsten Komödie, einer
Mutter-Tochter-Geschichte, kann man etwas von meiner Persönlichkeit entdecken.
Sie
hängen an Ihrer Familie?
Akerman:
Ein Großteil ist schon gestorben. Egal,
ob man eine gute oder schlechte Bindung zur Familie hat - sie ist immer stark.
Sogar wenn man eine solche Bindung ablehnt, bleibt sie bestehen. Ich wohne seit
über 25 Jahren in Paris, sehe meine Mutter in Brüssel nur selten,
von der Verwandtschaft in Kanada, Kolumbien, Mexiko oder
Israel
ganz zu schweigen. Aber dieses enge Band kann ich nicht verleugnen.
Was
brachte Sie zum Film?
Akerman: Ich hatte eigentlich keine große
kinematografische Ahnung, Kino war ein Platz zum Knutschen und Eisessen. Als
15-Jährige geriet ich mehr zufällig in "Pierrot le Fou", und da machte
es Klick. Ich wusste von einer Sekunde auf die andere, ich gehöre in die
Welt des Films. Auf der Filmhochschule war ich nur sehr kurz, ich begann dann
Filme zu drehen, die ich durch andere Jobs finanzierte. Bei "Jeanne
Dielman" bemühte ich mich erstmals um staatliche Unterstützung.
Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland.
Fühlen
Sie sich in der heutigen Filmlandschaft noch wohl?
Akerman:
Ich muss mich ja nicht an irgendwelche Trends
hängen. Jeder Film findet sein Publikum, das man übrigens nicht unterschätzen
darf. "Die Gefangene" spielte keine riesigen Summen ein, wurde aber in fast
alle europäischen Länder verkauft. Ich habe allerdings auch sehr viel
Glück gehabt, Paulo Branco ist ein wagemutiger Produzent, bei ihm bin ich
gut aufgehoben, er lässt mir die notwendigen Freiheiten. Ich darf gar nicht
an die Produktionsbedingungen von "Eine Couch in New York" denken. In dem Projekt
steckte sehr viel Geld, nicht nur wegen Stars wie Juliette Binoche und William
Hurt. Ich stand ständig unter Druck. Auf diese grauenvolle Erfahrung kann
ich verzichten, da ziehe ich weniger aufwändige und weniger kostspielige
Filme vor. Was hat es für einen Sinn, seine Seele zu verkaufen?
Sie
bleiben dem europäischen Kino treu?
Akerman:
Sicherlich, solange es dieses Kino ohne Formulardenken
noch gibt. Jedes Land zeichnet sich durch einen spezifischen Blick aus; gerade
in der Vielfalt liegt die Spannung. Nur amerikanische Filme auf der Leinwand
wären eine Einschränkung unseres Sehens. Manchmal frage ich mich,
wie lang wir uns noch so frei artikulieren können. Bisher nutzten wir Autorenfilmer
eine Nische. Die Zukunft für Filme mit mittlerem Budget sieht düster
aus. Die kommerziellen mit Megabudgets und die künstlerischen mit Minibudgets
werden überleben. Wahrscheinlich muss ich meine Filme mit noch weniger
Geld realisieren, das erlaubt aber auch mehr Radikalität. Vielleicht landen
unsere Filme demnächst nur noch in Kinematheken oder wie Alexander Sokurows
"Moloch" in Kunstgalerien. Keine angenehme Zukunftsvorstellung.
Das Gespräch führte
Margret Köhler. (film-dienst
Nr. 10, 2002).