Kerstin Herlt
"What it feels like for a girl in this world"
Zur filmischen Arbeit junger Regisseurinnen in Deutschland


Wirft man einen Blick auf das aktuelle Kinoprogramm in Frankfurt am Main - "eine Wüste" nach Einschätzung eines Berliner Filmverleihs - so sind Regisseurinnen aus Deutschland (und Österreich) zahlreich vertreten: zu sehen gibt es "Anam" (2000/01) von Buket Alakus, "Bella Martha" (2000/01) von Sandra Nettelbeck, "Nirgendwo in Afrika" (2001) von Caroline Link, "Mein langsames Leben" (2000/01) von Angela Schanelec, "Lovely Rita" (2000/01) von Jessica Hausner, "In den Tag hinein" (2000/01) von Maria Speth und "Fickende Fische" (2001/02) von Almut Getto. Deutsche Regisseurinnen sind im Filmgeschäft erfolgreich, so könnte man resümieren.
Und tatsächlich hat sich die Situation für Filmemacherinnen im deutschsprachigen Raum verbessert. Inzwischen sind an den Film- und Medienhochschulen Frauen und Männer paritätisch vertreten, und von der Nachwuchsförderung profitieren beide Geblechter gleichermaßen. Hinzu kommen spezifische Förderprogrammen für Künstlerinnen und Filmemacherinnen. Zudem genießt der junge deutsche Film zur Zeit große Aufmerksamkeit. Auf der diesjährigen Berlinale wurde die neue Reihe Perspektive Deutsches Kino gezielt hervorgehoben, die bis dahin unter dem Titel Neues deutsches Kino im Gesamtprogramm eher unauffällig blieb. Spezielle Filmreihen zum jungen deutschen Kino, wie sie das Europäische Institut des Kinofilms in Karlsruhe (EIKK) im letzten Jahr organisierte, sind Beispiele dafür, daß man sich wieder für den jungen deutschen Film interessiert, nicht nur, um die eigene Filmkultur zu fördern, sondern weil sich eine Auseinandersetzung mit den inhaltlichen und ästhetischen Implikationen zu lohnen scheint.

Neben der ungewohnt starken Präsenz von Nachwuchsregisseurinnen interessiert mich die Frage, inwiefern man bei den Filmen der jungen Regisseurinnen von einer "Rückkehr des Politischen" sprechen kann. Auf welche Weise wird das Politische in den Filmen berührt ? Explizit politische Themen, beispielsweise die Aufarbeitung von Biographien ehemaliger RAF-Mitglieder, werden aktuell nur von den männlichen Kollegen in Angriff genommen.
Geht es um die Dimension des Politischen in den Filmen der jungen Regisseurinnen, dann drängt sich zunächst die Frage auf, ob das "Geschlecht" als soziologische und politische Kategorie darin verhandelt wird. Ist die Tatsache, eine Frau zu sein und als Frau Filme zu machen, nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftspolitisch relevant ?
In einem Überblick über die Situation und das Selbstverständnis der Nachwuchsregisseurinnen in Deutschland stellt Claudia Lenssen (2002b: 23) fest, daß ein Großteil der jungen Regisseurinnen ihre Arbeiten nicht unter dem Label "Frauenfilm" rezipiert wissen möchte. Aber dieses Etikett trifft genau genommen nicht einmal für die Filmemacherinnen des Neuen deutschen Films zu: Margarethe von Trotta, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms, Jutta Brückner, Ulrike Ottinger u. a. formulierten mit ihren filmischen Arbeiten unterschiedliche subjektive Perspektiven, die allerdings eng verbunden waren mit den politischen Ereignissen und den Theorien jener Zeit. Mag der vereinheitlichende Begriff "Frauenfilm" in den siebziger Jahren nicht zutreffend sein, um die unterschiedlichen filmischen Herangehensweisen adäquat zu benennen, so ging es doch in diesen Filmen um die Suche nach einer "weiblichen" Autonomie. Und der Begriff funktionierte, im guten wie im schlechten Sinne, für die Rezeption dieser Filme.
So wurde Der Neue deutsche Film der Regisseurinnen im europäischen Ausland wesentlich besser aufgenommen, während er bei der westdeutschen Filmkritik nicht selten auf eine Ablehnung stieß, die Margarethe von Trotta im Hinblick auf die Reaktion nach der Aufführung ihres Filmes "Heller Wahn" auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin 1983 als Bashing beschreibt (Lenssen 20023:9).
Eines der ersten Frauenfilmfestivals, das Internationale Frauenfilmfestival in Creteil (damals noch Sceaux), startete 1979 mit Filmen westdeutscher Regisseurinnen, eine Kontinuität, die bis heute besteht: Im letzen Jahr ging der große Preis der Jury in Creteil an Maria Speths Langfilmdebut "In den Tag hinein", in diesem Jahr wurde dieser Preis an Sandra Nettelbecks "Bella Martha" vergeben.
Eine solche Kontinuität läßt sich im eigenen Land nicht verzeichnen. Das Verhältnis zwischen den beiden Generationen von Filmemacherinnen in Deutschland muß man wohl als Nicht-Verhältnis beschreiben: eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten der
älteren Generation findet nicht statt, nicht einmal in Form einer Abgrenzung, die man als Generationenbruch beschreiben könnte. Diesen Mangel an gegenseitiger Unterstützung hält Helma Sanders-Brahms für einen großen Fehler. Unter anderem führt sie diesen Zustand auf die Filmpolitik und die neu entstandene Filmförderung der Länder zu Beginn der achtziger Jahre zurück. Die Beteiligten, so ihre Vermutung, hatten kein Interesse, die wichtigsten Personen des deutschen Films im Land zu halten und zu fördern (Sanders-Brahms 2002 : 26).
Zwar haben die Frauen im Film immer noch nicht den Stand ihrer Kollegen erreicht, doch diese Ungleichheit wird sozusagen "hinter den Kulissen" verhandelt. So sind die Frauen in der Kategorie "Langspielfilm" weiterhin unterrepräsentiert, im Unterschied zu den männlichen Nachwuchsregisseuren vertraut man ihnen kein größeres Budget an. Ihre Drehbücher müssen sie in der Regel selbst schreiben, von Männern verfaßte Drehbücher werden ihnen erst gar nicht angeboten (unveröffentlichtes Interview mit Almut Getto, 28. April 2002).
Den Filmen, die ich im folgenden vorstellen möchte - "Fickende Fische", "Mein Stern", "Lovely Rita" und "In den Tag hinein" - liegt ein gemeinsames Sujet zugrunde, dessen Bearbeitung zuweilen sehr unterschiedlich ausfällt. Sie beschreiben das Lebensgefühl von jungen Menschen - in der Regel junge Frauen - zwischen 14 und 22 Jahren. Sie sind alle auf der Suche nach der (ersten) großen Liebe, die deshalb so bedeutend ist, weil sie den Übergang in das Erwachsenenleben markiert. Sucht man nach den Dimensionen des Politischen in diesen Filmen der dreißig-bis vierzigjährigen Regisseurinnen, so findet man sie am ehesten in der Darstellung von Einsamkeit und einer schmerzhaften Desillusioniertheit der jugendlichen Protagonisten in bezug auf ihre Zukunft. Daß es kein richtiges Leben im falschen gibt, ist das Fazit all dieser Filme. Die optimistisch-gutgelaunte You get what you want-Attitüde, die die Liebeskomödien der achtziger und frühen neunziger Jahre (z.B. "Männer", 1985, von Doris Dörrie oder "Abgeschminkt", 1992/93, von Katja von Garnier) charakterisierte, ist der radikalen Einsicht gewichen, daß die Glücksversprechen nicht eingelöst werden.


"Fickende Fische"

In das Leben des 16jährigen Jan tritt auf ziemlich stürmische Weise die 15Jährige Nina. Jan ist zurückhaltend, wohlbehütet und liebt es, in der Badewanne die Luft anzuhalten. Seine Leidenschaft gilt dem Wasser und den Fischen, und es störte ihn, bis er Nina kennenlernt, auch nicht, daß die Tapete seines Zimmers ziemlich "infantil" ist. Nina wächst mit dem Vater, der Freundin des Vaters und ihrem Bruder auf. Obwohl sie immer sehr tough wirkt, sehnt sie sich sehr nach der Mutter, die in Kenia lebt. Beide verlieben sich ineinander und Jan begeistert Nina für die Welt unter Wasser. Vor allem aber möchte Nina wissen, ob und wie Fische Sex haben. Doch der Schritt in die gemeinsame Zukunft bleibt den beiden versagt. Jan ist Hiv-positiv, infiziert wurde er als Kind bei einer Bluttransfusion. Das Ende des Films ist spektakulär und umstritten: Jan und Nina entscheiden sich, aller Ratschläge der Erwachsenen zum Trotz, zusammenzubleiben. Almut Getto wählt den Weg für ihre Figuren, den auch "Thelma und Louise" (1991) gegangen sind : im fahrenden Auto stürzen Jan und Nina über die Brücke in den Fluß.
"Fickende Fische" ist der einzige Film in dieser Reihe, der ein gesellschaftspolitisches Thema zum Gegenstand nimmt und den Konventionen des klassischen Erzählkinos folgt. Dabei setzt er bewußt auf Empathie und Identifikation der Zuschauer mit dem Geschehen. Der Film ist im klassischen Sinne dramatisch, doch der Regisseurin gelingt es, dieses Thema ohne Rückgriff auf visuelle und thematische Klischees zu behandeln. Dabei hilft es ihr, daß von Anfang an ein Fluchtpunkt aufgebaut wurde, der diese Tragik abmildert. Die Welt unter Wasser wird zur zweiten Realität für Jan, zu der er, wann immer es ihm möglich ist, Zuflucht nimmt. Ob am Ende nun der Tod oder der Übergang in eine andere Realität steht, bleibt letztendlich eine Frage der Interpretation. Insofern ließe sich der Tod positiv wenden, beide haben sich entschlossen, an ihrer Liebe und ihren Träumen festzuhalten.


"Mein Stern"

Nicole und Christopher, 15 und 16 Jahre alt, leben in einem Vorort Berlins. Nicole beginnt eine Bäckerlehre, Christopher eine Ausbildung als Installateur. Beide träumen von einer Normalität des Lebens, zu der auch der Glaube an die große Liebe gehört. Nicoles Mutter arbeitet nachts, von einem Vater ist nicht die Rede.
Die Liebe ist eine ernsthafte Angelegenheit. Man muß zwar lächeln, wenn Christopher sagt, daß sie schön sei, wie das siebte Weltwunder und daß er ohne sie nicht leben könne, doch ist es eines der großen Verdienste Valeska Grisebachs, daß sie diese Ernsthaftigkeit nicht ins Lächerliche zieht oder sonst wie als "pubertär" abtut.
Das Arbeitermilieu dient hier nicht als Folie für eine sozial-romantische Liebesgeschichte, dem Film geht es auch nicht darum, wie die Verhältnisse Einfluß nehmen auf das Leben von Menschen. Eine Intrige oder Dramaturgie im klassischen Sinne fehlt. Der Film verzichtet auf eine psychologische Interpretation der Figuren und kümmert sich auch nicht um "soziale Determiniertheit". Der Film konzentriert sich auf die Gesten und Verhaltensweisen der Figuren und verleiht ihnen dadurch eine Aufrichtigkeit und Reinheit, wie sie in dieser Weise nur von Laiendarstellern erreicht werden kann. Die Charaktere in "Mein Stern" sind von einer fast naturalistischen Selbstversunkenheit. Kein falsches Wort, keine falsche Geste schleicht sich ein. Dialoge werden äußerst sparsam verwendet; die Antworten reduzieren sich häufig auf ein schlichtes "hm" und "ja". (Schnitt 2002 :43). Diese Art des Sprechens schätzte bereits Jean-Luc Godard (1957:5) an der jungen Brigitte Bardot, im Gegensatz zu den elaborierten Dialogen des französischen Qualitätskinos. In einer polemischen Kritik warf er den Schauspielerinnen vor, sie seien unfähig, auch nur die banalste Geste des alltäglichen Lebens vor der Kamera auszuführen. Damit hat er einem anderen berühmten Regisseur das Wort geredet: Robert Bresson, dem "Naturalisten" des modernen Kinos. Kaum ein anderer Regisseur war so manisch auf das "Wahre" bedacht. Keine Schauspieler, keine Rollen, keine Inszenierung. In seiner Geringschätzung von Theater und Kino lehnte er konsequent alles "Künstliche" ab, dazu gehörte auch die Arbeit mit professionellen Schauspielern. Dem "photographierten Theaters" setzt er die Poesie des Kinematographen entgegen:
"Le cinema copie la vie, ou la photogra-pbie, tandis que moi, je recree la vie äpartir d'elements aussi nature, aussi bruts quepossible." (Delahaye/Godard 2001:284).


"Lovely Rita"

Der Strategie Robert Bressons, für die weibliche Besetzung seines Films "Mouchette" (1966) "dasjenige Mädchen auszusuchen, das am schlechtsten schauspielert, sich am schlechtesten benimmt [...], um jene Reaktionen aus ihr herauszuholen, die sie bei sich selbst niemals vermutet hätte" (Delahaye/Godard 2001: 293), ist Jessica Hausner in "Lovely Rita" gefolgt.
Rita ist 14 und lebt mit ihren Eltern in einem Vorort von Wien. Sie ist alles andere als lovely (das war sie durch die Beatles erst geworden), zumindest nicht in den Augen ihrer Umwelt. Sie benimmt sich schlecht und wird von ihren Mitschülerinnen geschnitten. Zu Hause wird ihre Auflehnung von den Eltern mit unerschütterlicher Gleichgültigkeit bestraft. Das einzige, was den Vater wirklich auf die Palme bringt, ist ein offener Klodeckel. Zum Ritual gehört, daß Rita für ihr "Vergehen" in ihr Zimmer eingeschlossen wird. Ebenso wie die Mitschüler und Lehrer bilden die Eltern eine gemeinsame Front gegen Rita. Ihr einziger Freund ist Fexi. Mit ihm erlebt sie kurze Momente des Glücks. Wie in vielen Filmen ist die Tanzszene eine der schönsten. Selbstvergessen ist sie im Einklang mit sich und ihrem Körper, die Welt draußen suspendiert. Mit Fexi macht sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen, wobei sie auch gleich ertappt werden. Der Umgang mit ihm ist für Rita von nun an verboten.
Die Überzeichnung des österreichischen Spießertums in "Lovely Rita" mag Klischee sein (Gansera 2002 :46), doch hier erfüllt es seine Funktion: es reflektiert Ritas radikale Nicht-Zugehörigkeit zu dieser Welt. Und in dieser Welt scheinen alle bis auf Rita bestens ihre Rollen in einem schlechten Stück zu spielen.
In der Schule wird ein englisches Theaterstück geprobt und Rita - von deren Wünschen und Sehnsüchten der Zuschauer sonst nichts erfährt - einzig offenkundiger Wunsch ist es, die Hauptrolle zu spielen. Doch die bekommen natürlich diejenigen, denen es leicht fällt, in die Sprache der Erwachsenen zu schlüpfen und dabei mühelos die manieristische Diktion des Theaters zu reproduzieren. Rita hingegen ist auf die Rolle der (stummen) Bediensteten verwiesen. Bei der Aufführung des Stücks schließt Rita den "Star" kurzerhand in der Garderobe ein und übernimmt deren Part. Doch wie im richtigen Leben spielt Rita ihre Rolle schlecht. Monoton leiert sie den Text herunter, ihre englische Aussprache ist katastrophal. Schlechtes Theater ist auch die Geburtstagsfeier des Vaters, beschworen wird eine Familienidylle, die nicht existiert. Mit dem Jagdgewehr setzt sie dem Leben ihrer Eltern ein Ende. Konsequent wird auch in diesem Film auf psychologische oder soziologische Deutungsmuster verzichtet. Rita tötet die Eltern, weil die Grenze des Erträglichen für sie überschritten ist. Doch das klassische Schema von Ursache und Wirkung, Situation und Aktion, Reiz und Antwort greift in diesem Film nicht. Die Kamera weicht zwar keinen Augenblick von Rita, doch das bringt sie dem Zuschauer nicht wirklich näher. Selbst der ungewöhnliche Einsatz von Zooms verringert die Distanz zur Protagonistin nicht. Der Ausbruch der Gewalt bleibt unvermittelt.


"ln den Tag hinein"

Die Einsamkeit und deren Visualisierung ist auch Gegenstand von "In den Tag hinein". Der Film erzählt einige Tage aus dem Leben der 22jährigen Lynn, die ihren Unterhalt mit Gelegenheitsjobs bestreitet. Ihr Freund David ist Leistungsschwimmer, langweilig und einzig an seiner Karriere interessiert. Als Lynn sich eines Nachts ins Bett ihres Freundes legt, zieht er ihr im Schlaf die Decke weg. Kurzerhand fackelt sie ihm die Kartons im Zimmer ab. In der Familie ihres Bruder, bei der Lynn ein Zimmer bewohnt, spricht man wenig miteinander. Die Schwägerin klebt Zettel an Lynns Tür und schließt den Kühlschrank ab - stumme Indizien eines Konflikts, der schon lange nicht mehr zur Sprache gebracht wird. So ist es fast schon symptomatisch, daß Lynn sich am besten mit ihrer taubstummen Nichte versteht. Lynn selbst spricht nicht viel, und wenn sie reagiert, dann aus einer wortlosen Aggression heraus, z. B.indem sie eben Feuer im Zimmer ihres Freundes legt oder wütend Kirschkerne gegen den verschlossenen Kühlschrank spuckt.
In der Kantine lernt sie den Japaner Koji kennen, nachdem sich ihre Wege vorher ein paar mal gekreuzt hatten, ohne daß sie ein-
ander wirklich wahrgenommen hätten. Mit Koji radelt sie im Morgengrauen durch Berlin und lauscht dem Klang seiner Sprache, die sie nicht versteht. Ihm gelingt es immerhin, ein Lächeln auf Lynns Gesicht zu zaubern, ein glückliches und erwartungsvolles Lächeln. Doch das Happy-End bleibt aus. Lynn stirbt - folgt man den wenigen Indizien - an den Verletzungen eines Autounfalls. Doch selbst der Tod ereilt sie beiläufig und auf unspektakuläre Weise.
"In den Tag hinein" ist eine Kontemplation auf das alltägliche Leben einer jungen Frau in einer deutschen Metropole. Das Thema ist die Suche nach romantischer Liebe, die nicht in Erfüllung geht. "Was kommt, wenn alles gesagt ist ?" (Deleuze 1997:244). Wie eine Geschichte erzählen, deren Ereignisse bereits stattgefunden haben oder niemals stattfinden werden ?
Lynn ist eine jener enigmatischen Figuren des modernen Kinos, die nicht wirklich betroffen sind von dem, was mit ihr passiert, und die der Welt, die sie umgibt, nicht wirklich angehört. Sowohl die Dialoge als auch die Handlung sind aufs Äußerste reduziert, und aus dieser Reduktion bezieht der Film seine emotionale Stärke. Fragt man die Regisseurin nach ihren kinematographischen Einflüssen, nennt sie das asiatische Kino. Von dort mag sich der Minimalismus des Films und sein visueller Stil ableiten. Die Figuren erinnern an Wong Kar-Wais gefallene Engel ("Fallen Angels"/Duoluo Tianshi, 1995), jene undurchdringlichen und einsamen Protagonisten, die ihre Gefühle nicht äußern und selten zeigen. Transportiert werden sie über die Kadrierung des Bildes, die Farbe, oder sie spiegeln sich in den architektonischen (Ober) flächen und den Lichtern nächtlicher Großstädte. "In den Tag" hinein lebt von der Atmosphäre und dem visuellen Stil. Die blaue Färbung des Bildes hat den Effekt eines Filters, der die Geräusche der Stadt, aber auch die Emotionen "schluckt". Die Einsamkeit ist die zentrifugale Kraft des Films, der das Bild affiziert.


Plädoyer für ein Kino der Körper

Dialog und Handlung sind in diesen Filmen auf eine Minimum reduziert, um den Blick freizugeben auf die Körper, die Gesten und Verhaltensweisen der Figuren. Wenn wir z. B. etwas über das Leben Lynns erfahren, dann wird es vermittelt über die Verhaltensweisen und Stellungen ihres Körpers: beim Radfahren, beim Tanzen, bei der Arbeit, im Bett, in der Badewanne.
"Die Kategorien des Lebens sind genaugenommen die Verhaltensweisen des Körpers: seine Stellungen. "Wir wissen nicht einmal, wozu ein Körper in der Lage ist": in seinem Schlaf, seiner Trunkenheit, seiner Anspannung, seiner Widerstandskraft. [...] Der Körper ist niemals einfach in seiner Gegenwart, er enthält das Vorher und Nachher, die Erschöpfung und die Erwartung." (Deleuze 1997b : 244).
"Mein Stern", "Lovely Rita" und "In den Tag hinein" fordern ein "Kino des Körpers" ein. Die Figuren entwickeln sich weder aus der Geschichte noch der Intrige heraus, sondern reduzieren sich auf die Verhaltensweisen des Körpers.
"Das Innere durch das Verhalten zeigen, nicht mehr die Erfahrung, sondern das, was von den vergangenen Erfahrungen zurückbleibt [...], eine derartige Methode verläuft zwangsläufig über die Verhaltensweisen und Stellungen des Körpers." (Deleuze 199/7: 244).
Das wäre eine mögliche Politik des Bildes. Damit lassen sich die beschriebenen Filme anschließen an das Projekt eines modernen Kinos, wie es z.B.Michelangelo Antonioni und Jean-Luc Godard entworfen haben. Ihnen wurde von der marxistischen Kritik vorgeworfen, sie würden zu passive Figuren zeichnen, die kein Potential hätten, die bestehenden Verhältnisse zu verändern und neue Perspektiven aufzuzeigen (Deleuze 1997b: 33), worauf man Godards Replik anführen kann, daß es nicht darum gehe, politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen. Eine Politik des Bildes wäre demnach, den Verhaltensweisen und Stellungen des Körpers die Bilder zurückzugeben (Deleuze 1997b: 25o).
Nicht die Figuren sind aus den Fugen geraten, sondern die Welt um sie herum. Das trifft für Lynn ebenso zu wie für Rita. Die Körper-Bilder der jungen Frauen reflektieren den Zustand einer Welt, unter der sie leiden, zu der sie aber längst keine Verbindung mehr haben. Selbst der Tod scheint sie nur entfernt zu betreffen.
In "Fickende Fische" mag er als Übergang in eine andere Realität noch eine utopische und auch versöhnliche Funktion haben. Lynns Tod hingegen ist unspektakulär, ohne jede überhöhende Tragik. Ein langsamer Entzug des Lebens. (erstmals erschienen in: Ästhetik & Kommunikation, Heft 117, S. 91-96)


Literatur

DELEUZE, Gilles. 1973a. Das Bewegungsbild. Kino I. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
DELEUZE, Gilles. 1997b. Das Zeitbild. Kino 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
DELAHAYE, Michel; Jean-Luc Godard. 2001. "Entretien avec Robert Bresson". In: Andre Bazin u.a.(Hgg.). Lapolitique des anteurs. Les entretiens. Mit einem Vorwort von Serge Daney. Paris: Cahiers du cinema, 266-294.
GANSERA, Rainer 2002. "Lovely Rita. Jessica Hausners Portrait einer verstörten 15jährigen". In: epd-Film 5, 46.
GODARD, Jean-Luc. 1957. "Les acteur francais. De bons produits sans mode d'emploi". In: Arts 619, 5.
GROSS, Larry. 1996. "Nonchalant Grace". In: Sight and Sound 9, 6-10.
LENSSEN, Claudia. 20023. "Departure from the "Women's Corner". Women Filmmakers in Germany Today". In: Kino. Exportunion of German Cinema 4, 6-13.
LENSSEN, Claudia. 2002b. "Vorsicht statt Frechheit. Deutsche Regisseurinnen". In: epd-Film 2, 20-25.
ROTHER, Hans-Jörg. 2001. "Japanische Tröstung". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. November 2001.
SANDERS-BRAHMS, Helma. 2002. "Konflikt der Generationen. Ein Gespräch mit Helma Sanders-Brahms". In: Schnitt 26, 8-11.


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