Neben
der ungewohnt starken Präsenz von Nachwuchsregisseurinnen interessiert
mich die Frage, inwiefern man bei den Filmen der jungen Regisseurinnen von einer
"Rückkehr des Politischen" sprechen kann. Auf welche Weise wird
das Politische in den Filmen berührt ? Explizit politische Themen, beispielsweise
die Aufarbeitung von Biographien ehemaliger RAF-Mitglieder, werden aktuell nur
von den männlichen Kollegen in Angriff genommen.
Geht es um die Dimension des Politischen in den Filmen der jungen Regisseurinnen,
dann drängt sich zunächst die Frage auf, ob das "Geschlecht"
als soziologische und politische Kategorie darin verhandelt wird. Ist die Tatsache,
eine Frau zu sein und als Frau Filme zu machen, nicht nur individuell, sondern
auch gesellschaftspolitisch relevant ?
In einem Überblick über die Situation und das Selbstverständnis
der Nachwuchsregisseurinnen in Deutschland stellt Claudia Lenssen (2002b: 23)
fest, daß ein Großteil der jungen Regisseurinnen ihre Arbeiten nicht
unter dem Label "Frauenfilm" rezipiert wissen möchte. Aber dieses
Etikett trifft genau genommen nicht einmal für die Filmemacherinnen des
Neuen deutschen Films zu: Margarethe von Trotta, Helke Sander, Helma Sanders-Brahms,
Jutta Brückner, Ulrike Ottinger u. a. formulierten mit ihren filmischen
Arbeiten unterschiedliche subjektive Perspektiven, die allerdings eng verbunden
waren mit den politischen Ereignissen und den Theorien jener Zeit. Mag der vereinheitlichende
Begriff "Frauenfilm" in den siebziger Jahren nicht zutreffend sein,
um die unterschiedlichen filmischen Herangehensweisen adäquat zu benennen,
so ging es doch in diesen Filmen um die Suche nach einer "weiblichen"
Autonomie. Und der Begriff funktionierte, im guten wie im schlechten Sinne,
für die Rezeption dieser Filme.
So wurde Der Neue deutsche Film der Regisseurinnen im europäischen Ausland
wesentlich besser aufgenommen, während er bei der westdeutschen Filmkritik
nicht selten auf eine Ablehnung stieß, die Margarethe von Trotta im Hinblick
auf die Reaktion nach der Aufführung ihres Filmes "Heller Wahn"
auf den Internationalen Filmfestspielen in Berlin 1983 als Bashing beschreibt
(Lenssen 20023:9).
Eines der ersten Frauenfilmfestivals, das Internationale Frauenfilmfestival
in Creteil (damals noch Sceaux), startete 1979 mit Filmen westdeutscher Regisseurinnen,
eine Kontinuität, die bis heute besteht: Im letzen Jahr ging der große
Preis der Jury in Creteil an Maria Speths Langfilmdebut "In den Tag hinein",
in diesem Jahr wurde dieser Preis an Sandra Nettelbecks "Bella Martha"
vergeben.
Eine solche Kontinuität läßt sich im eigenen Land nicht verzeichnen.
Das Verhältnis zwischen den beiden Generationen von Filmemacherinnen in
Deutschland muß man wohl als Nicht-Verhältnis beschreiben: eine Auseinandersetzung
mit den Arbeiten der
älteren Generation findet nicht statt, nicht einmal in Form einer Abgrenzung,
die man als Generationenbruch beschreiben könnte. Diesen Mangel an gegenseitiger
Unterstützung hält Helma Sanders-Brahms für einen großen
Fehler. Unter anderem führt sie diesen Zustand auf die Filmpolitik und
die neu entstandene Filmförderung der Länder zu Beginn der achtziger
Jahre zurück. Die Beteiligten, so ihre Vermutung, hatten kein Interesse,
die wichtigsten Personen des deutschen Films im Land zu halten und zu fördern
(Sanders-Brahms 2002 : 26).
Zwar haben die Frauen im Film immer noch nicht den Stand ihrer Kollegen erreicht,
doch diese Ungleichheit wird sozusagen "hinter den Kulissen" verhandelt.
So sind die Frauen in der Kategorie "Langspielfilm" weiterhin unterrepräsentiert,
im Unterschied zu den männlichen Nachwuchsregisseuren vertraut man ihnen
kein größeres Budget an. Ihre Drehbücher müssen sie in
der Regel selbst schreiben, von Männern verfaßte Drehbücher
werden ihnen erst gar nicht angeboten (unveröffentlichtes Interview mit
Almut Getto, 28. April 2002).
Den Filmen, die ich im folgenden vorstellen möchte - "Fickende Fische",
"Mein Stern", "Lovely Rita" und "In den Tag hinein"
- liegt ein gemeinsames Sujet zugrunde, dessen Bearbeitung zuweilen sehr unterschiedlich
ausfällt. Sie beschreiben das Lebensgefühl von jungen Menschen - in
der Regel junge Frauen - zwischen 14 und 22 Jahren. Sie sind alle auf der Suche
nach der (ersten) großen Liebe, die deshalb so bedeutend ist, weil sie
den Übergang in das Erwachsenenleben markiert. Sucht man nach den Dimensionen
des Politischen in diesen Filmen der dreißig-bis vierzigjährigen
Regisseurinnen, so findet man sie am ehesten in der Darstellung von Einsamkeit
und einer schmerzhaften Desillusioniertheit der jugendlichen Protagonisten in
bezug auf ihre Zukunft. Daß es kein richtiges Leben im falschen gibt,
ist das Fazit all dieser Filme. Die optimistisch-gutgelaunte You get what you
want-Attitüde, die die Liebeskomödien der achtziger und frühen
neunziger Jahre (z.B. "Männer", 1985, von Doris Dörrie oder
"Abgeschminkt", 1992/93, von Katja von Garnier) charakterisierte,
ist der radikalen Einsicht gewichen, daß die Glücksversprechen nicht
eingelöst werden.
"Fickende Fische"
In das Leben des 16jährigen Jan tritt auf ziemlich stürmische Weise
die 15Jährige Nina. Jan ist zurückhaltend, wohlbehütet und liebt
es, in der Badewanne die Luft anzuhalten. Seine Leidenschaft gilt dem Wasser
und den Fischen, und es störte ihn, bis er Nina kennenlernt, auch nicht,
daß die Tapete seines Zimmers ziemlich "infantil" ist. Nina
wächst mit dem Vater, der Freundin des Vaters und ihrem Bruder auf. Obwohl
sie immer sehr tough wirkt, sehnt sie sich sehr nach der Mutter, die in Kenia
lebt. Beide verlieben sich ineinander und Jan begeistert Nina für die Welt
unter Wasser. Vor allem aber möchte Nina wissen, ob und wie Fische Sex
haben. Doch der Schritt in die gemeinsame Zukunft bleibt den beiden versagt.
Jan ist Hiv-positiv, infiziert wurde er als Kind bei einer Bluttransfusion.
Das Ende des Films ist spektakulär und umstritten: Jan und Nina entscheiden
sich, aller Ratschläge der Erwachsenen zum Trotz, zusammenzubleiben. Almut
Getto wählt den Weg für ihre Figuren, den auch "Thelma und Louise"
(1991) gegangen sind : im fahrenden Auto stürzen Jan und Nina über
die Brücke in den Fluß.
"Fickende Fische" ist der einzige Film in dieser Reihe, der ein gesellschaftspolitisches
Thema zum Gegenstand nimmt und den Konventionen des klassischen Erzählkinos
folgt. Dabei setzt er bewußt auf Empathie und Identifikation der Zuschauer
mit dem Geschehen. Der Film ist im klassischen Sinne dramatisch, doch der Regisseurin
gelingt es, dieses Thema ohne Rückgriff auf visuelle und thematische Klischees
zu behandeln. Dabei hilft es ihr, daß von Anfang an ein Fluchtpunkt aufgebaut
wurde, der diese Tragik abmildert. Die Welt unter Wasser wird zur zweiten Realität
für Jan, zu der er, wann immer es ihm möglich ist, Zuflucht nimmt.
Ob am Ende nun der Tod oder der Übergang in eine andere Realität steht,
bleibt letztendlich eine Frage der Interpretation. Insofern ließe sich
der Tod positiv wenden, beide haben sich entschlossen, an ihrer Liebe und ihren
Träumen festzuhalten.
"Mein Stern"
Nicole und Christopher, 15 und 16 Jahre alt, leben in einem Vorort Berlins.
Nicole beginnt eine Bäckerlehre, Christopher eine Ausbildung als Installateur.
Beide träumen von einer Normalität des Lebens, zu der auch der Glaube
an die große Liebe gehört. Nicoles Mutter arbeitet nachts, von einem
Vater ist nicht die Rede.
Die Liebe ist eine ernsthafte Angelegenheit. Man muß zwar lächeln,
wenn Christopher sagt, daß sie schön sei, wie das siebte Weltwunder
und daß er ohne sie nicht leben könne, doch ist es eines der großen
Verdienste Valeska Grisebachs, daß sie diese Ernsthaftigkeit nicht ins
Lächerliche zieht oder sonst wie als "pubertär" abtut.
Das Arbeitermilieu dient hier nicht als Folie für eine sozial-romantische
Liebesgeschichte, dem Film geht es auch nicht darum, wie die Verhältnisse
Einfluß nehmen auf das Leben von Menschen. Eine Intrige oder Dramaturgie
im klassischen Sinne fehlt. Der Film verzichtet auf eine psychologische Interpretation
der Figuren und kümmert sich auch nicht um "soziale Determiniertheit".
Der Film konzentriert sich auf die Gesten und Verhaltensweisen der Figuren und
verleiht ihnen dadurch eine Aufrichtigkeit und Reinheit, wie sie in dieser Weise
nur von Laiendarstellern erreicht werden kann. Die Charaktere in "Mein
Stern" sind von einer fast naturalistischen Selbstversunkenheit. Kein falsches
Wort, keine falsche Geste schleicht sich ein. Dialoge werden äußerst
sparsam verwendet; die Antworten reduzieren sich häufig auf ein schlichtes
"hm" und "ja". (Schnitt 2002 :43). Diese Art des Sprechens
schätzte bereits Jean-Luc Godard (1957:5) an der jungen Brigitte Bardot,
im Gegensatz zu den elaborierten Dialogen des französischen Qualitätskinos.
In einer polemischen Kritik warf er den Schauspielerinnen vor, sie seien unfähig,
auch nur die banalste Geste des alltäglichen Lebens vor der Kamera auszuführen.
Damit hat er einem anderen berühmten Regisseur das Wort geredet: Robert
Bresson, dem "Naturalisten" des modernen Kinos. Kaum ein anderer Regisseur
war so manisch auf das "Wahre" bedacht. Keine Schauspieler, keine
Rollen, keine Inszenierung. In seiner Geringschätzung von Theater und Kino
lehnte er konsequent alles "Künstliche" ab, dazu gehörte
auch die Arbeit mit professionellen Schauspielern. Dem "photographierten
Theaters" setzt er die Poesie des Kinematographen entgegen:
"Le cinema copie la vie, ou la photogra-pbie,
tandis que moi, je recree la vie äpartir d'elements aussi nature, aussi
bruts quepossible." (Delahaye/Godard
2001:284).
"Lovely Rita"
Der Strategie Robert Bressons, für die weibliche Besetzung seines Films
"Mouchette" (1966) "dasjenige Mädchen auszusuchen, das am
schlechtsten schauspielert, sich am schlechtesten benimmt [...], um jene Reaktionen
aus ihr herauszuholen, die sie bei sich selbst niemals vermutet hätte"
(Delahaye/Godard 2001: 293), ist Jessica Hausner in "Lovely Rita"
gefolgt.
Rita ist 14 und lebt mit ihren Eltern in einem Vorort von Wien. Sie ist alles
andere als lovely (das war sie durch die Beatles erst geworden), zumindest nicht
in den Augen ihrer Umwelt. Sie benimmt sich schlecht und wird von ihren Mitschülerinnen
geschnitten. Zu Hause wird ihre Auflehnung von den Eltern mit unerschütterlicher
Gleichgültigkeit bestraft. Das einzige, was den Vater wirklich auf die
Palme bringt, ist ein offener Klodeckel. Zum Ritual gehört, daß Rita
für ihr "Vergehen" in ihr Zimmer eingeschlossen wird. Ebenso
wie die Mitschüler und Lehrer bilden die Eltern eine gemeinsame Front gegen
Rita. Ihr einziger Freund ist Fexi. Mit ihm erlebt sie kurze Momente des Glücks.
Wie in vielen Filmen ist die Tanzszene eine der schönsten. Selbstvergessen
ist sie im Einklang mit sich und ihrem Körper, die Welt draußen suspendiert.
Mit Fexi macht sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen, wobei sie auch gleich
ertappt werden. Der Umgang mit ihm ist für Rita von nun an verboten.
Die Überzeichnung des österreichischen Spießertums in "Lovely
Rita" mag Klischee sein (Gansera 2002 :46), doch hier erfüllt es seine
Funktion: es reflektiert Ritas radikale Nicht-Zugehörigkeit zu dieser Welt.
Und in dieser Welt scheinen alle bis auf Rita bestens ihre Rollen in einem schlechten
Stück zu spielen.
In der Schule wird ein englisches Theaterstück geprobt und Rita - von deren
Wünschen und Sehnsüchten der Zuschauer sonst nichts erfährt -
einzig offenkundiger Wunsch ist es, die Hauptrolle zu spielen. Doch die bekommen
natürlich diejenigen, denen es leicht fällt, in die Sprache der Erwachsenen
zu schlüpfen und dabei mühelos die manieristische Diktion des Theaters
zu reproduzieren. Rita hingegen ist auf die Rolle der (stummen) Bediensteten
verwiesen. Bei der Aufführung des Stücks schließt Rita den "Star"
kurzerhand in der Garderobe ein und übernimmt deren Part. Doch wie im richtigen
Leben spielt Rita ihre Rolle schlecht. Monoton leiert sie den Text herunter,
ihre englische Aussprache ist katastrophal. Schlechtes Theater ist auch die
Geburtstagsfeier des Vaters, beschworen wird eine Familienidylle, die nicht
existiert. Mit dem Jagdgewehr setzt sie dem Leben ihrer Eltern ein Ende. Konsequent
wird auch in diesem Film auf psychologische oder soziologische Deutungsmuster
verzichtet. Rita tötet die Eltern, weil die Grenze des Erträglichen
für sie überschritten ist. Doch das klassische Schema von Ursache
und Wirkung, Situation und Aktion, Reiz und Antwort greift in diesem Film nicht.
Die Kamera weicht zwar keinen Augenblick von Rita, doch das bringt sie dem Zuschauer
nicht wirklich näher. Selbst der ungewöhnliche Einsatz von Zooms verringert
die Distanz zur Protagonistin nicht. Der Ausbruch der Gewalt bleibt unvermittelt.
"ln den Tag hinein"
Die Einsamkeit und deren Visualisierung ist auch Gegenstand von "In den
Tag hinein". Der Film erzählt einige Tage aus dem Leben der 22jährigen
Lynn, die ihren Unterhalt mit Gelegenheitsjobs bestreitet. Ihr Freund David
ist Leistungsschwimmer, langweilig und einzig an seiner Karriere interessiert.
Als Lynn sich eines Nachts ins Bett ihres Freundes legt, zieht er ihr im Schlaf
die Decke weg. Kurzerhand fackelt sie ihm die Kartons im Zimmer ab. In der Familie
ihres Bruder, bei der Lynn ein Zimmer bewohnt, spricht man wenig miteinander.
Die Schwägerin klebt Zettel an Lynns Tür und schließt den Kühlschrank
ab - stumme Indizien eines Konflikts, der schon lange nicht mehr zur Sprache
gebracht wird. So ist es fast schon symptomatisch, daß Lynn sich am besten
mit ihrer taubstummen Nichte versteht. Lynn selbst spricht nicht viel, und wenn
sie reagiert, dann aus einer wortlosen Aggression heraus, z. B.indem sie eben
Feuer im Zimmer ihres Freundes legt oder wütend Kirschkerne gegen den verschlossenen
Kühlschrank spuckt.
In der Kantine lernt sie den Japaner Koji kennen, nachdem sich ihre Wege vorher
ein paar mal gekreuzt hatten, ohne daß sie ein-
ander wirklich wahrgenommen hätten. Mit Koji radelt sie im Morgengrauen
durch Berlin und lauscht dem Klang seiner Sprache, die sie nicht versteht. Ihm
gelingt es immerhin, ein Lächeln auf Lynns Gesicht zu zaubern, ein glückliches
und erwartungsvolles Lächeln. Doch das Happy-End bleibt aus. Lynn stirbt
- folgt man den wenigen Indizien - an den Verletzungen eines Autounfalls. Doch
selbst der Tod ereilt sie beiläufig und auf unspektakuläre Weise.
"In den Tag hinein" ist eine Kontemplation auf das alltägliche
Leben einer jungen Frau in einer deutschen Metropole. Das Thema ist die Suche
nach romantischer Liebe, die nicht in Erfüllung geht. "Was kommt,
wenn alles gesagt ist ?" (Deleuze 1997:244). Wie eine Geschichte erzählen,
deren Ereignisse bereits stattgefunden haben oder niemals stattfinden werden
?
Lynn ist eine jener enigmatischen Figuren des modernen Kinos, die nicht wirklich
betroffen sind von dem, was mit ihr passiert, und die der Welt, die sie umgibt,
nicht wirklich angehört. Sowohl die Dialoge als auch die Handlung sind
aufs Äußerste reduziert, und aus dieser Reduktion bezieht der Film
seine emotionale Stärke. Fragt man die Regisseurin nach ihren kinematographischen
Einflüssen, nennt sie das asiatische Kino. Von dort mag sich der Minimalismus
des Films und sein visueller Stil ableiten. Die Figuren erinnern an Wong Kar-Wais
gefallene Engel ("Fallen Angels"/Duoluo Tianshi, 1995), jene undurchdringlichen
und einsamen Protagonisten, die ihre Gefühle nicht äußern und
selten zeigen. Transportiert werden sie über die Kadrierung des Bildes,
die Farbe, oder sie spiegeln sich in den architektonischen (Ober) flächen
und den Lichtern nächtlicher Großstädte. "In den Tag"
hinein lebt von der Atmosphäre und dem visuellen Stil. Die blaue Färbung
des Bildes hat den Effekt eines Filters, der die Geräusche der Stadt, aber
auch die Emotionen "schluckt". Die Einsamkeit ist die zentrifugale
Kraft des Films, der das Bild affiziert.
Plädoyer für ein Kino der Körper
Dialog und Handlung sind in diesen Filmen auf eine Minimum reduziert, um den
Blick freizugeben auf die Körper, die Gesten und Verhaltensweisen der Figuren.
Wenn wir z. B. etwas über das Leben Lynns erfahren, dann wird es vermittelt
über die Verhaltensweisen und Stellungen ihres Körpers: beim Radfahren,
beim Tanzen, bei der Arbeit, im Bett, in der Badewanne.
"Die Kategorien des Lebens sind genaugenommen die Verhaltensweisen des
Körpers: seine Stellungen. "Wir wissen nicht einmal, wozu ein Körper
in der Lage ist": in seinem Schlaf, seiner Trunkenheit, seiner Anspannung,
seiner Widerstandskraft. [...] Der Körper ist niemals einfach in seiner
Gegenwart, er enthält das Vorher und Nachher, die Erschöpfung und
die Erwartung." (Deleuze 1997b : 244).
"Mein Stern", "Lovely Rita" und "In den Tag hinein"
fordern ein "Kino des Körpers" ein. Die Figuren entwickeln sich
weder aus der Geschichte noch der Intrige heraus, sondern reduzieren sich auf
die Verhaltensweisen des Körpers.
"Das Innere durch das Verhalten zeigen, nicht mehr die Erfahrung, sondern
das, was von den vergangenen Erfahrungen zurückbleibt [...], eine derartige
Methode verläuft zwangsläufig über die Verhaltensweisen und Stellungen
des Körpers." (Deleuze 199/7: 244).
Das wäre eine mögliche Politik des Bildes. Damit lassen sich die beschriebenen
Filme anschließen an das Projekt eines modernen Kinos, wie es z.B.Michelangelo
Antonioni und Jean-Luc Godard entworfen haben. Ihnen wurde von der marxistischen
Kritik vorgeworfen, sie würden zu passive Figuren zeichnen, die kein Potential
hätten, die bestehenden Verhältnisse zu verändern und neue Perspektiven
aufzuzeigen (Deleuze 1997b: 33), worauf man Godards Replik anführen kann,
daß es nicht darum gehe, politische Filme zu machen, sondern Filme politisch
zu machen. Eine Politik des Bildes wäre demnach, den Verhaltensweisen und
Stellungen des Körpers die Bilder zurückzugeben (Deleuze 1997b: 25o).
Nicht die Figuren sind aus den Fugen geraten, sondern die Welt um sie herum.
Das trifft für Lynn ebenso zu wie für Rita. Die Körper-Bilder
der jungen Frauen reflektieren den Zustand einer Welt, unter der sie leiden,
zu der sie aber längst keine Verbindung mehr haben. Selbst der Tod scheint
sie nur entfernt zu betreffen.
In "Fickende Fische" mag er als Übergang in eine andere Realität
noch eine utopische und auch versöhnliche Funktion haben. Lynns Tod hingegen
ist unspektakulär, ohne jede überhöhende Tragik. Ein langsamer
Entzug des Lebens. (erstmals erschienen in: Ästhetik
& Kommunikation, Heft 117, S. 91-96)
Literatur
DELEUZE, Gilles. 1973a. Das Bewegungsbild. Kino I. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
DELEUZE, Gilles. 1997b. Das Zeitbild. Kino 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
DELAHAYE, Michel; Jean-Luc Godard. 2001. "Entretien avec Robert Bresson".
In: Andre Bazin u.a.(Hgg.). Lapolitique des anteurs. Les entretiens. Mit einem
Vorwort von Serge Daney. Paris: Cahiers du cinema, 266-294.
GANSERA, Rainer 2002. "Lovely Rita. Jessica Hausners Portrait einer verstörten
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GODARD, Jean-Luc. 1957. "Les acteur francais. De bons produits sans mode
d'emploi". In: Arts 619, 5.
GROSS, Larry. 1996. "Nonchalant Grace". In: Sight and Sound 9, 6-10.
LENSSEN, Claudia. 20023. "Departure from the "Women's Corner".
Women Filmmakers in Germany Today". In: Kino. Exportunion of German Cinema
4, 6-13.
LENSSEN, Claudia. 2002b. "Vorsicht statt Frechheit. Deutsche Regisseurinnen".
In: epd-Film 2, 20-25.
ROTHER, Hans-Jörg. 2001. "Japanische Tröstung". In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 15. November 2001.
SANDERS-BRAHMS, Helma. 2002. "Konflikt der Generationen. Ein Gespräch
mit Helma Sanders-Brahms". In: Schnitt 26, 8-11.